Familie Julius Braunschweiger
Ringstraße 14
Der Handelsmann Julius Braunschweiger (* 1895) war verheiratet mit Selma geb. Stern (* 1900) aus Frankershausen bei Eschwege. Das Ehepaar hatte drei Kinder:
Paula, geb. 1926
Alfred, geb. 1928
Reni, geb. 1936
Zunächst lebte die Familie zusammen mit Vater Daniel Braunschweiger im Haus Schlossstraße 1. Als der Witwer Daniel Braunschweiger 1934 sein Haus verkauft hatte, wohnten die jungen Leute für kurze Zeit zur Miete bei Münstermann in der Ringstraße. Nachdem die Familie Oppenheimer Ende 1935 ausgewandert war, bezogen Braunschweigers deren Haus in der Ringstraße 14. Vorerst lebten sie darin als Mieter bis sie 1939 das Haus als Eigentümer käuflich erwerben konnten.
Julius war Frontkämpfer im ersten Weltkrieg gewesen und zu 60% kriegsbeschädigt. Infolge seiner schweren Kriegsverletzung bekam er gelegentlich epileptische Anfälle. Deshalb brachte man ihn auch nach der Verhaftung während des Novemberpogroms von 1938 nicht ins KZ Buchenwald, sondern musste ihn auf höhere Anordnung wieder nach Hause entlassen. Das passte der Burghauner Ortspolizeibehörde offenbar nicht. Wie berichtet wurde, kam am Abend des 10. November, als Julius gerade das Tischgebet sprach, „urplötzlich der Bürgermeister ins Zimmer und schrie ihn an: Früh hat man Anfälle und abends liest man aus einem koscheren Buche vor!“
Als nach dem Novemberpogrom klar war, dass es für Juden keine Zukunft mehr in Deutschland gab, bemühten sich die Eltern Braunschweiger darum, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Sich von der kleinen Reni, die gerade mal drei Jahre alt war, trennen zu müssen, muss ihnen besonders schwer gefallen sein. Ein kleiner Trost war vielleicht für sie, dass ihre große Schwester Paula, mit knapp 13 Jahren allerdings auch noch ein Kind, bei ihr war. Beide Mädchen mussten zuerst nach Frankfurt a. Main gebracht werden, von wo am 25. Juli 1939 ein Kindertransport der jüdischen Wohlfahrts-pflege der Stadt Frankfurt nach England startete. Auf diese Weise konnten Paula und Reni dem Zugriff der Nazis entkommen und gerettet werden. Reni, die als kleines Kind in den Lagern kaum eine Überlebenschance gehabt hätte, fand später ein neues Zuhause bei englischen Adoptiveltern.
Für Alfred konnten die Eltern Braunschweiger offensichtlich keinen der begehrten Plätze mehr im Kindertransport bekommen. So blieb er mit ihnen in Burghaun zurück, wo er nach eigener Aussage noch seine "Bar Mizwa" feierte, was dann im Juni 1941 gewesen sein müsste.
Weil Julius Braunschweiger mit Nathan Strauß im Wald Beeren gepflückt hatte, wurde er im Spätsommer 1941 erneut verhaftet und am 19. September für mehrere Wochen in der "Landesarbeitsanstalt" Breitenau, die zu dieser Zeit auch Konzentrationslager war, inhaftiert. Von dort entließ man ihn am 6. Dezember wieder nach Hause. Bereits zwei Tage später kam der Abschied von Burghaun: Am 8. Dezember wurden Julius und Selma Braunschweiger zusammen mit ihrem Sohn Alfred in das Ghetto Riga deportiert. Dort starb Selma im Juni 1943 - vermutlich als Opfer einer Selektion. Julius kam im Zuge der Liquidierung des Rigaer Ghettos am 2. November 1943 mit einem Transport nach Auschwitz, wo er ermordet wurde.
Alfred überlebte mehrere Konzentrationslager und schlug sich nach seiner Errettung aus dem KZ Stutthof nach Burghaun durch. Er war gerade 17 Jahre alt geworden. Befragt, wieso er ausgerechnet nach Burghaun zurückkehrte, meinte er: "Meine Eltern waren tot, von meinen beiden Schwestern wusste ich zu der Zeit nichts, wo hätte ich hingehen sollen? Also ging ich nach dem Krieg dahin zurück, wo ich geboren war“. Zuerst sah er nach seinem Elternhaus, aber das war besetzt, von den Möbeln und dem Hausrat seiner Familie fand er nichts mehr vor, es war alles weg. In Burghaun verbrachte er zwei Jahre bei früheren Nachbarn, bis er schließlich im Oktober 1947 zu Verwandten in die USA ausreisen konnte. Durch die Vermittlung professioneller Suchdienste bekam er bald auch wieder Kontakt zu seiner Schwester Paula, die inzwischen geheiratet hatte und mit ihrer Familie nach Kanada gezogen war, wo sie im Februar 1996 nach schwerer Krankheit starb.
Im Jahr 1997 sah Alfred seine Schwester Reni zum ersten Mal wieder. In New York berichtete er 1998: "Ich wusste, wo meine Schwester lebt, ihre Adresse hatte ich erfahren. Reni wusste nichts von ihrer Herkunft und dass sie als Baby nach England gekommen war. Die neuen Eltern wollten nicht, dass sie das erfährt. Erst nachdem ihre englischen Eltern gestorben waren, nahm ich Kontakt mit ihr auf. Denn ich hatte diesen Leuten versprechen müssen, dass ich keine Verbindung zu meiner Schwester suchen würde. - Ja, ich glaube, Reni hat das alles nie gewusst, sie hat sich auch darum nicht gekümmert. Sie hatte es bei diesen englischen Eltern ja sehr gut, sie waren sehr reich. Sie wusste nichts vom Schicksal unserer Eltern, erst jetzt hat sie alles erfahren."